More PSEUDO - Der pissgelbe Punkroman (21stCenturySpaceCowb)
Veröffentlichung: , Medium:
Ahoi Abgefuckt Liebt Dich,
der Kieler Punkroman, Teil 2, ist inzwischen veröffentlicht. "More PSEUDO - Der pissgelbe Punkroman" enthält neben den 54 Kapiteln eine Menge Fotos von Punks, Postern, Flyern (oder Flugblättern, wie man früher sagte), Fanzine-Covers, Zeitungsartikeln, Zeitungsschlagzeilen, Besetzten Häusern, Trampschildern und Schablonen mit Bandnamen.
Wer Interesse hat, kann das Buch direkt bei mir erwerben.
Hier ein Auszug:
Faire Preise auf der “Fair Lady“
Der Butterdampfer “Fair Lady“ erinnerte in seiner Bauweise stark an die damaligen Fördedampfer, war jedoch geringfügig größer. Dieser Dampfer hatte jedoch keinen schwarz-weißen Anstrich, sondern war durchweg weiß. Der Veranstalter der Butterfahrten inserierte regelmäßig in den lokalen Zeitungen KN und EXPRESS. Diese Mini-Inserate enthielten sowohl den geschwungenen Schriftzug des Schiffsnamens, als auch eine Miniaturzeichnung des Butterdampfers. Der Nachmittagsausflug mit der “Fair Lady“ war ein tolles Gegenangebot zur Langelandfahrt, jedoch weniger großspurig als das große Langeland-Schiff. Auch auf der “Fair Lady“ konnten wir uns als Punks und Skins hemmungslos dicht laufen lassen, ohne zwangsläufig größere Reibereien mit anderen zu riskieren. Wir durften ferner zollfrei Kippen und Alk kaufen und uns mit der be-liebten dänischen Lakritze eindecken. Mit unserer kleinen Gruppe Teenage Punks und Skins wählten wir spontan einen heißen Sommertag für die Fair-Lady-Tour. Wir begangen jedoch den Fehler, dass wir schon beim Betreten des Schiffes lattenstramm waren. Wahrscheinlich kamen wir erst auf die Idee, eine Butterfahrt zu bestreiten, als wir uns knülle in der Nähe des Bootsanlegers rumtrieben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo wir an Bord gingen. Ich weiß nur, dass die Initiative von Hecker, dem Greenhorn, ausging, der das Engagement eines Reiseleiters an den Tag legte, und dass auch Oi-Ringo, Heimerich und mindestens zwei weitere Personen mit von der Partie waren. Es war also noch ein vergleichsweise harmloses Team.
Der Butterdampfer “Fair Lady“ fuhr damals zwischen Kiel und Marstal auf der dänischen Insel Ærø. Eine Zeit lang fuhr das Schiff sogar zwischen Eckernförde und Sønderborg. Meine Erinnerung sagte mir, dass wir eventuell sogar einen der Anleger am Seegarten oder sogar der Fähranleger Bellevue nahmen. Der Alkoholkonsum war einfach zu hoch, als dass ich das noch genau sagen könnte. Allerdings machte mich später ein waschechter Kieler darauf aufmerksam, der deutlich weniger trank als wir, dass die “Fair Lady“ zu der Zeit von der Hörn auf Bahnhofsseite abfuhr. Die Kuh ist allerdings nicht vom Eis, ob wir nicht doch den Dampfer ab Eckernförde nahmen, um von dort nach Sønderborg zu schippern. Denn ein ehemaliger Schiffsjunge, der für die Müllentsorgung auf der Fair Lady zuständig war, berichtete, dass das Schiff ‘83/‘84 von Eckernförde aus startete. Er weiß es genau, da er und sein Arbeitskollege zu der Zeit an Bord beim Diebstahl von Bier und Zigaretten erwischt und überführt wurden.
Das Ticket muss so um die 5 D-Mark gekostet haben. Keine Ahnung, wo wir die Tickets kauften, vielleicht sogar beim Festmacher.
Ich machte solche Trips relativ selten mit. Einmal fuhr ich sogar mit Zosch und seiner Mutter nach Korsør in Schweden, als seine Mutter Freitickets für die Stena gewonnen hatte. Das war eine echt coole Tour. Auf der Hinfahrt gewann ich über 200 D-Mark an den einarmigen Banditen. In Korsør kaufte ich mir ein Vorfach mit Blinker für meine Angel. Auf der Rückfahrt verspielte ich das restliche Geld wieder. Wie gewonnen, so zerronnen. Zurück zur “Fair Lady“.
Als wir gegen 14 Uhr den Bootsanleger erreichten, überquerten wir nur mit größter Mühe wie angeschlagene Boxer die plankenähnliche Gangway. Es herrschten weder Wind noch Seegang und folglich schwankte der Dampfer kaum. Stattdessen herrschte eine ansehnliche Promillezahl, die unseren Gleichgewichtssinn im Griff hatte.
Schätzungsweise befanden sich mehr als 500 Personen an Bord. Wir nahmen wahr, dass die Passagiere größtenteils aus fucking Weltkriegs-rentnern bestanden, wie gewohnt mit Frauenüberschuss, die Männer alle mit Hüten und Mützen ausgestattet, zumeist helle Herrenhüte aber kaum dunkelblaue Helmut Schmidt Mützen oder hohe Eckernförder. Als der schneeweiße Dampfer ablegte, ging es uns gesundheitlich nicht mehr so gut, speziell in der Magengegend, obwohl es bisher nur mäßig schaukelte. Wir versuchten das Unwohlsein mit erhöhtem Alkoholkonsum zu bekämpfen.
„Hab jetzt ich oder hat das Schiff Schlagseite?“
Hinter Bülk steuerte der Dampfer in Richtung Norden aufs offene Meer. Von uns unbemerkt ging es am Stoller Grund vorbei, einer bekannten Sperrzone randvoll mit tonnenweise versenkter Weltkriegsmunition, einer ökologischen Zeitbombe. Aber das war ja typisch für unsere Ostsee „im Norden“.
Auf dem Schiff herrschte durchweg Raucherlaubnis. Es existierte kein Nichtraucherbereich. Entsprechend verqualmt war es auf dem Dampfer, trotz der hinderlichen Schwingtüren, die bei Drunkies und Kindern Schürf- und Platzwunden verursachen konnten. An einigen Stellen roch es nach Öl und Salzwasser und vergammelten Seesternen.
Diese Butterfahrten waren deshalb so verhängnisvoll, da sich das Gehirn komplett abschaltete und wir uns auf unsere niedersten Instinkte herabbegaben. Da kam unsere Küstenbewohnermentalität hoch. Wir schwafelten von „Buddeln voll Rum“, von Piraten und Matrosen. Ein ganz anderer Wortschatz aktivierte sich, dem wir uns lustvoll hingaben.
Wenn wir in unserem Suff über die Reeling in die Ferne schauten, hatten wir mit Sicherheit maritime Themen am Start. Wir sprachen über die unterschiedlichen Köpper wie Seemannsköpper oder Indianerköpper. Wir zählten gebetsmühlenartig alle heimischen Fischarten auf wie Makrele, Dorsch, Butt, Aal, Aalquappe, Seeteufel, also das Mindestprogramm, und differenzierten in essbar und ungenießbar. Es gab wieder aggressivste Diskussionen mit Gefühlsausbrüchen, was der Unterschied zwischen Butt, Flunder, Scholle und Plattfisch sei.
„Im Wasser ist das ein Butt und auf dem Teller ist das eine Scholle.“
„Mach den Kopp dicht, du hast doch gar keine Ahnung.“
„Hör auf, Plattfisch ist Nordsee und bei uns ist das Butt.“
„Flunder ist lebend und Scholle ist gebraten. Butt ist roh.“
Bei dem Thema gab es immer Streit.
Wir hatten optisch kaum was von der Fahrt, da auch hier die Fensterplätze restlos belegt waren. Wer zu lange in die Ferne sah, entwickelte Schwindelgefühle und Brechreiz.
Zu den wenigen Eindrücken, die bei mir noch präsent sind, gehören das andauernde Unwohlsein durch Alkoholika und die kräftigen Schaukelbewegungen auf der offenen Ostsee. Meine Kumpels hatten vergleichbare Beschwerden. Manchmal half nur ein Schnapps um das miese Bauchgefühl mit einem Brennen zu bekämpfen. Ich weiß nicht mehr, ob und wann einer aus der Gruppe spucken musste und ob das auf Toilette geschah, auf Decksboden oder über Bord.
Die “Fair Lady“ legte irgendwo in Dänemark an, wahrscheinlich südlich von Sønderborg oder am nördlichen Ende der Flensburger Förde, jedenfalls irgendwo in unserem Nachbarland. Wir peilten das gar nicht. Wir waren randvoll, im Prinzip klatschbreit und wollten unbedingt für ein paar Minuten festen Boden unter den Füßen spüren. Deshalb verließen wir united das Schiff in der Hoffnung, unsere alkoholbedingte Seekrankheit würde sich legen. Beim vorsichtigen Überqueren der Gangway bei brennender Sonne musste ich während meiner Tapsschritte am Geländer aus Seilen und Stützpfeilern fest zugreifen, als herrschte stärkster Seegang. Mit Lächeln und Verständnis nahmen der Kapitän, der Bootsfestmacher und die restliche Besatzung unser schwankendes Befinden zur Kenntnis.
Als wir an Land die ersten Schritte mit unseren schweren Boots wagten, vermisste ich das sonst an Land vorherrschende vertraute Feeling – als würde mich etwas zu Boden drücken, ein übermäßiges Gravitationsfeld.
Wir schnitten gar nicht mit, ob Passagiere in Dänemark blieben oder neue zustiegen. Obwohl wir in unmittelbarer Nähe des Schiffanlegers standen, hatten wir Bammel, die Abfahrt des Schiffes zu verpassen und plötzlich vor der eingeholten Gangway zu stehen. Einige Kapitäne ärgerten manchmal ihre Passagiere. Das war bekannt. Wir wollten nicht besoffen in Dänemark zurückzubleiben, auch wenn wir im Suff keine Verständigungsprobleme mit den freundlichen Dänen hatten. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir bei einer Abfahrt von einem Spaßvogel abgelinkt worden wären, denn bei den KVAG-Busfahrern stand das auf der Tagesordnung, kurz vor Erreichen der Eingangstür per Knopf die Türen zu schließen und Gas zu geben, selbst bei laufenden und gestikulierenden Rentnerinnen. Einige Busfahrer waren so sado-mäßig, auch die Huffmänner, dass sie kurz anfuhren, stehen blieben, um am Ende doch davonzurauschen. Also, solange nur die Gangway eingeholt war, und die Tampen noch an den Pollern hingen, war das Schiff längst nicht abgefahren. Doch unsere Ängste waren an diesem sonnigen Samstag unbegründet und dem Alkohol geschuldet.
Nach dem kurzen Landgang in Dänemark ging es zurück in Richtung Kiel. Wir stachen in See, und sobald wir wieder außerhalb der Dreimeilenzone waren, stand der Duty Free Shop den zahlungskräftigen Passagieren wieder zur Verfügung. Der Shop bestand aus einer kleinen Ver-kaufsnische, die sehr gut bestückt war, vor allem mit hartem Schnapps. Wir deckten uns mit ein paar Kleinigkeiten ein, Lakritze, zollfreie Zigaretten und Alkohol satt – was denn sonst – während unsere Verfassung immer bedenklicher wurde. Ladendiebstahl war für uns kein Thema, ließ sich generell aber nicht unterbinden, denn als Verkäufer kannst du nicht gleichzeitig freundlich sein und auf Ladendiebe achten. Zum Glück mussten wir beim Zahlen keine D-Mark umtauschen oder den Kronenkurs berechnen, denn es war möglich sowohl in D-Mark als auch in Kronen zu zahlen. Alles war doppelt ausgepreist, und es galt von je her die Faustregel:
„Für eine D-Mark bekommst du um und bei 7 Kronen.“
Niemand stieß sich an unserem Punkoutfit oder unserer breiten Sprache. Wir wurden schweigend akzeptiert und belächelt wie Behinderte.
Punks trugen hier bei den Weltkriegsrentnern eher zur Belustigung bei. Sie wurden beäugt wie Dorftrottel, ohne dass wir den Spott direkt abbekamen. Als 16-jährige Punks und Skins wirkten wir einfach zu harmlos auf dem schwankenden Schiff. Für einige Schaulustige war das wie Fernsehen oder Klamauk. Es fehlte nur noch, dass uns jemand einen Kussmund zuwarf wie der eine Knastologe bei A Clockwork Orange.
An Bord konnten wir uns wieder herrlich über Punkmusik unterhalten, denn das war eins der wenigen Themen, die immer gingen. Wer Hintergründe und Erläuterungen zu Exploited- oder U.K. Subs-Texten kannte, weihte die anderen ein wie ein Büchergelehrter. Übelkeit und Magenprobleme wurden sofort kundgetan und mit einem Lächeln quittiert und der Frage
„Musst du kotzen Alter?“
Zwischendurch sang einer “Rolling home“, jedoch unvollständig. Das Gleiche versuchten wir mit „De Hamborger Veermaster“ und “Drunken Sailor“. Ich versuchte eine Textzeile von “Friggin‘ in the Riggin‘“ zu im-provisieren, die so nicht existierte:
“The captains name was Mable, he was fucking unable.“
Das fand Ringo wiederum lustig.
Das nächste Top-Thema, über das wir uns an Bord herrlich schnacken konnten, waren die uns bekannten regionalen Alkoholdelikatessen wie Tote Oma, Grog oder Pharisäer. Heimerich kannte alle landestypischen Getränke, wirklich alle.
Ebenso versuchten wir uns ernsthaft an der Seemannssprache und warfen reihenweise Begriffe ins Boot und durcheinander wie achtern, Steuerbord, Backbord, mittschiffs, Knoten, Luv, Lee sowie Schiffstypen wie Barg, Pinasse, Schoner, Klipper und Dschunke.
Zurück in Fucking Kiel ging nichts mehr. Unsere Fischköpfe glühten unaufhörlich. Bereits am späten Nachmittag waren wir durch den Suff, die Übermengen an Lakritz und Kettenrauchen der Zollfreien physisch und kopfmässig am Ende. Die billigen Zigaretten zu fast 50 Prozent der gewohnten Ladenpreise suggerierten, möglichst viel rauchen zu müssen, damit sich der Einkauf lohnte, und dass jede Zigarette als Schnäppchen zu genießen sei.
Wie besinnungslose oder geblendete Teenager, oder nach einer Ladung CS-Gas, taumelten wir vom Anlegesteg und ertasteten unseren Weg.
Als wir united zurück an Land waren, fühlten wir uns wie auf einem anderen Planeten mit neuen physikalischen Gesetzen. Jeder musste für sich Kopfweh bekämpfen oder sich auskotzen. Einige hatten eine horrorshow Schlagseite. Wir waren dermaßen besoffen. Es war Totaalinen Ko-masaufen.
Nach dieser Butterfahrt taumelten wir noch deutlicher als bei vergleichbaren Besäufnissen an Land mit gleichem Alkohollevel. Stürze ließen sich nicht vermeiden oder das Abstützen an Wänden und Geländern. Das galt nicht nur für Heimerich. Nach der Rückkehr wirkte unsere Fortbewegung wie in einem Hochhaus in einem japanischen Erdbebengebiet oder nach einer starken Detonation oder einem Meteoriteneinschlag. Unsere Köpfe glühten weiter wie Vulkane. Irgendwer hatte noch ein Matjesbrötchen gegessen und sich die Lederjacke schmuddelig gemacht. Die ersten fragten sich, ob wir vorhin überhaupt in Dänemark angelegt hatten oder nur raus aus der Dreimeilenzone fuhren. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, ob wir in Sønderborg waren oder auf der Insel Ærø.
Das war eine schöne Zeit, auch wenn sie viele Gehirnzellen kostete. Doch bald war der Kult mit den Butterfahrten passé. Die bösartige Kohlregierung schaffte diese Duty Free Schiffstouren schlussendlich ab und damit ein Stück Deutsch-Dänische Freundschaft.